Bei der diesjährigen documenta in Kassel, einer der wichtigsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst weltweit, spielten die Themen Landwirtschaft und Ernährung eine bedeutende Rolle. Es gab Werke zu den Zusammenhängen von Biodiversität, Boden und Ernährung in einem auf Gewinn getrimmten Wirtschaftssystem zu sehen. Auch das Problem der Verdrängung von traditionellem Saatgut wurde aufgegriffen. Gleichzeitig zeigte ein von Künstlern und Anwohnern gestalteter Stadtgarten, dass Alternativen zur industrialisierten Landwirtschaft auch in einer deutschen Mittelstadt entstehen können.
In einem dunklen Raum mit spürbar höherer Luftfeuchtigkeit als sonst in Museen üblich, lagen in kleinen, an der Wand befestigten Kästchen Körner. Tausende von Körnern, dutzende von Sorten. Es war Reis in mannigfaltigen Formen, Farben und Größen. Reis, wie ihn ein durchschnittlicher Verbraucher noch nie vorher gesehen hatte. Doch diese Vielfalt war nur ein Teil davon, was die Natur in Indien, dem Herkunftsland des Künstlers Amar Kanwar, hervorgebracht hat. Über 30.000 verschiedene Sorten von Reis sollen es einst gewesen sein. Für jeden Standort und alle Bedingungen war die Richtige dabei. Heute werden nur noch ein paar Wenige angebaut. Multinationale Konzerne wie Syngenta dominieren den Markt für Saatgut, lassen sich neben ihren Gentechnik-Pflanzen auch Konventionelle rechtlich schützen – und drängen alte Sorten ins Aus.
Künstler Kanwar hat zusammen mit Landwirten viele dieser traditionellen Sorten aufgespürt. Über 260 konnten so vermehrt und vorerst gerettet werden. Dass es dabei um mehr geht, als nur ein paar Körner, verdeutlichte ein kleines Buch zwischen den Reis-Schalen. Es zeigte auf jeder Seite ein kleines Foto, daneben ein Name mit Datum. Das Buch dokumentierte zahlreiche Selbstmorde indischer Kleinbauern. Die Abhängigkeit von den Saatgutkonzernen, denen sie Lizenzgebühren entrichten mussten, hatte ihre wirtschaftliche Situation aussichtslos erscheinen lassen. Damit erinnerte das Werk Kanwars auch an die vielen aktuellen Berichte über Suizide von Bauern auf dem Subkontinent, die sich wegen des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen wie Baumwolle immer weiter verschulden.
Das Projekt der US-amerikanischen Künstlerin Claire Pentecost drehte sich um verwandte Fragen. Sie entwarf eine neue, symbolische Währung aus in Barren und Münzen gepresstem Kompost – als Gegenstück zum auf fossilen Brennstoffen beruhenden Dollar. Die neue Währung, „soil-erg“ genannt, die jeder selbst herstellen könne, verdeutliche unsere Angewiesenheit auf die natürlichen Lebensgrundlagen, so Pentecost. Im Saatgut sieht sie „das älteste quelloffene Wissenssystem der Geschichte.“ Eine Privatisierung desselben sei daher „legalisierter Diebstahl“, zitiert sie das Begleitbuch zur Ausstellung.
Vom Raum mit dem Kompost-Geld öffnete sich eine Tür zu einem kleinen Garten. Besucher konnten dort frischen Kräutertee trinken und große Säulen betrachten, die ihnen mit Erde befüllt und dadurch bepflanzbar waren. Verschiedenes Gemüse und Blumen wuchsen durch kleine Öffnungen in der Außenhaut.
Dieser lebendige Aspekt der documenta trat noch deutlicher an einem etwas entlegeneren Ausstellungsort zutage, dem „Neighbour Huttengarden“. Auf dem Huttenplatz, einer öffentlichen, aber nicht besonders ansehnlichen Grünfläche inmitten einer hufeisenförmigen Wohnanlage, hatten Künstler und Anwohner zahlreiche Beete mit Gemüse, Getreide und Wildblumen angelegt. Improvisierte und liebevoll gestaltete Sitzgelegenheiten luden documenta-Touristen wie Nachbarn zum Verweilen und gegenseitigem Kennenlernen ein. „Die Menschen kommen hierher und reden miteinander“, freute sich Ines Reinisch, die am Aufbau des Gartens beteiligt war. Besonders schön sei es gewesen, wenn sich Eltern bedankten, weil sie ihren in der Stadt aufgewachsenen Kindern endlich einmal hätten zeigen können, wie richtiges Gemüse wächst. Anfängliche Bedenken auf Seiten der Stadtverwaltung wegen möglichem Vandalismus oder Vermüllung des Geländes hätten sich als völlig unbegründet erwiesen, erklärte die Dokumentarfilmerin.
Trotzdem mussten Reinisch und ihre Mitgärtner bis zuletzt bangen, ob der Garten auch nach Ende der documenta bestehen bleiben dürfe. Vergangenen Donnerstag kam dann aber doch noch die erlösende Zustimmung vom Ortsbeirat. Wenn die Kunstszene in fünf Jahren zur documenta 14 nach Kassel zurückkehrt, könnten in aller Stille schon viele weitere urban-farming-Projekte entstanden sein.