UPDATE +++ Mit einem Impulspapier hatte der neue Bundesvorstand von Bündnis90/Die Grünen im April eine parteiinterne Debatte über den Einsatz neuer gentechnischer Methoden in der Landwirtschaft angestoßen. Jetzt hat sie die Öffentlichkeit erreicht: Die grüne baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer votierte im Nachrichtenmagazin Spiegel dafür. In der Frankfurter Rundschau konterte erzürnt ihre Parteikollegin, die Bundestagsabgeordnete Renate Künast.
„Die Grünen dürfen die Chancen der Gentechnik nicht länger ignorieren“, findet Theresia Bauer. „Wenn wir durch innovative Ansätze heute bessere und kurzfristigere Erfolge erzielen können - auch für typisch grüne Ziele -, ist kritisch-konstruktive Offenheit gefragt“, schreibt die Wissenschaftsministerin. Die 53jährige bezieht sich damit auf neue Methoden wie die sogenannte Genschere CRISPR-Cas. Wegen vergleichsweise geringer Kosten wäre ihr breiter Einsatz innovationspolitisch sinnvoll, meint die studierte Volkswirtschaftlerin und plädiert für eine „sinnvolle Regulierung“ jenseits des geltenden strengen Gentechnikrechts.
Einigermaßen erstaunt reagierte der grüne Gentechnikexperte im Bundestag, Harald Ebner: Die baden-württembergischen Grünen hätten erst im Mai bei ihrem Landesparteitag ohne Gegenstimme beschlossen, dass auch neue Verfahren wie CRISPR-Cas klar als Gentechnik geregelt werden müssen. Von der Wissenschaftsministerin habe es keine Gegenrede gegeben. „Hinterhergeschobene Belehrungen über Medienbeiträge sind da wenig konstruktiv“, schimpft Ebner.
Und die Gentechnikkritiker reagierten prompt. Nur fünf Tage nach Bauers Spiegel-Beitrag schrieb Renate Künast in der Frankfurter Rundschau: „Fakt ist: Wir verstehen zwar die Funktionsweise der Neuen Gentechnik, wissen aber noch lange nicht, wie sie wirkt. Wir wissen nicht, welche biochemischen Prozesse innerhalb der Zelle dabei betroffen sind oder welche Auswirkungen CRISPR-Cas auf Ökosysteme und Artenvielfalt hat“, warnt die ehemalige grüne Agrarministerin vor vorschnellem Einsatz. Trotzdem sichere die Agrarindustrie sich bereits die Patente und damit die Marktanteile. Für einen agrarpolitischen Wandel „müssen wir unsere Lebensweise ändern und uns anders ernähren“, meint Künast. Und mit Blick auf das Impulspapier des Parteivorstands fragt sie erzürnt: „Wie kann man dem Lobbyismus derart auf den Leim gehen und glauben, dass eine einzige technische Methode die Lösung für umfassende globale Probleme ist?“ In dem Papier waren die neuen gentechnischen Verfahren als mögliche Maßnahme gegen den Welthunger ins Spiel gebracht worden.
Ähnlich wie Künast argumentieren 21 agrarpolitische SprecherInnen und zuständige MinisterInnen der Grünen auf Landes-, Bundes- und Europaebene. Statt den Hunger in der Welt zu stillen, nutzten die Agrarkonzerne die Gentechnik vor allem dazu, die Bauern von gentechnisch verändertem Saatgut und den ergänzenden Pestiziden abhängig zu machen, kritisieren sie in einem Positionspapier zur Agrogentechnik von Mitte Mai. Sie heben hervor, dass sich mit den neuen gentechnischen Verfahren die Eingriffstiefe in einen Organismus grundlegend verändert. Außerdem seien die so hergestellten Pflanzen und Tiere nicht mehr rückholbar, sollte man nach ihrer Freisetzung feststellen, dass sie anders aufs Ökosystem wirken als gedacht. Die AgrarexpertInnen fordern, die neuen Gentechnikverfahren nach dem Gentechnikgesetz zu regeln. Ferner müsse der Staat die Forschung an standort- und klimaangepassten Sorten unterstützen und dafür sorgen, dass vielfältiges Saatgut für alle zugänglich bleibt.
Auf gleicher Linie liegt die grüne Bundestagsfraktion. Der Beschluss ihres Arbeitskreises zwei ist zwar schon ein Jahr alt, gilt aber unverändert: „Gentechnik ist nicht die Technik, mit der wir den Heraus- und Anforderungen der Landwirtschaft der Zukunft begegnen können – auch die neue Gentechnik liefert das nicht!“, heißt es dort. Wegen der Risiken unerwünschter Nebenwirkungen müssten auch mit neuen Techniken hergestellte Organismen umfassend auf Risken geprüft, transparent gekennzeichnet werden und rückverfolgbar sein. Kurz: wie Gentechnik reguliert werden.
Harald Ebner betonte in einem Beitrag für die Böll-Stiftung, dass die Grünen schon seit Jahrenzehnten "eine offene und grundsätzliche, kontroverse und differenzierte Diskussion über rote, grüne, weiße, graue, alte und schließlich auch neue Gentechnik" führten. Dabei unterscheide die Partei schon lange zwischen beherrschbaren, weil geschlossenen Labor-Systemen und medizinischen Anwendungen auf der einen Seite und gentechnisch veränderten Pflanzen und Tieren, die unkontrollierbar und nicht rückholbar ins Ökosystem freigesetzt würden, auf der anderen Seite.
Es sei die Lust am politischen Streit, die sie das Impulspapier so provokant formulieren ließ, erklärten Robert Habeck und Annalena Baerbock, die im Januar als neue Bundesvorsitzende der Grünen gewählt worden waren. Diesen Streit haben sie bekommen, reichlich, quer durch die eigene Partei und darüber hinaus. Und es sieht nicht so aus, als ob ihr Schlachtruf „Holen wir uns das politische Mandat zurück!“ die Fachmänner und -frauen bei den Grünen dazu bewegen würde, die in jahrelanger politischer Arbeit entwickelten Positionen zur Agrogentechnik einfach über den Haufen zu werfen. [vef]
UPDATE Beitrag Harald Ebner für die Böll-Stiftung.