Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass die EU-Pestizidverordnung das Vorsorgeprinzip beachtet. So wie er die Verordnung auslegt, stellt der Gerichtshof jedoch die aktuelle Zulassungspraxis in Frage. Zahlreiche Pestizidzulassungen in Europa müssten damit unverzüglich entzogen werden, erklärte ein Anwalt aus dem französischen Ausgangsprozess - auch für glyphosathaltige Spritzmittel.
Der EuGH hatte Anfragen eines französischen Strafgerichts geklärt, das gegen Umweltaktivisten verhandelt, die glyphosathaltige Pestizide unbrauchbar gemacht hatten. Die französischen Richter wollten wissen, ob die Verordnung (EG) 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln dem Vorsorgeprinzip entspricht. Die Umweltaktivisten hatten dies verneint und damit ihr Vorgehen gegen die Glyphosatpestizide gerechtfertigt.
Der EuGH ist der Ansicht, dass der Verordnungstext sehr wohl das Vorsorgeprinzip beachtet und wies insofern die Argumentation der Umweltaktivisten zurück. Allerdings beschrieben die EuGH-Richter in ihrer Entscheidung genau, wie der Text der Verordnung im Sinne des Vorsorgeprinzips zu verstehen sei. Die Auslegung des Gerichtshofs zeige, dass die Verordnung bisher oft nicht oder nicht ordnungsgemäß angewandt worden sei, erklärte Guillaume Tumerelle, der Anwalt der Aktivisten. „Mit diesem Urteil kann nun eine große Zahl von Zulassungen, die dem europäischen Verfahren nicht nachgekommen sind, angefochten werden, insbesondere die Zulassung von Herbiziden auf Glyphosatbasis.“ Medienberichte, wonach der EuGH festgestellt habe, die fünfjährige Verlängerung von Glyphosat sei rechtmäßig, erscheinen damit fragwürdig. Denn mit der konkreten Zulassung des Totalherbizids hatte sich der Gerichtshof gar nicht befasst. Es ging nur um die Frage, ob die Verordnung dem Vorsorgeprinzip widerspricht.
Laut EuGH erfordert das Vorsorgeprinzip, die möglicherweise negativen Auswirkungen der einzelnen Wirkstoffe und des gesamten Pflanzenschutzmittels auf die Gesundheit zuerst zu bestimmen und dann umfassend zu bewerten „auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung“. Bei der Zulassung sei „die Berücksichtigung der Kumulations- und Synergieeffekte der Bestandteile dieses Mittels ebenfalls verpflichtend“, schreiben die Richter unter Verweis auf die entsprechenden Passagen der Verordnung. Deshalb hätten die Mitgliedstaaten „bei einer solchen Bewertung die Wechselwirkungen zwischen den Wirkstoffen, den Safenern, den Synergisten und den Beistoffen zu berücksichtigen“.
Bisher sieht die Zulassungspraxis in der EU so aus, dass auf EU-Ebene die einzelnen Wirkstoffe zugelassen werden, während die Mitgliedsstaaten für die Zulassung der damit hergestellten fertigen Pestizide zuständig sind. Damit die Mitgliedsstaaten bei einem fertigen Pestizid die Gesundheitsrisiken bewerten können, müssen auch für das fertige Produkt entsprechende Studien zur Karzinogenität und Toxizität vorliegen, schreiben die Richter – auch wenn dies in der Verordnung nicht explizit vorgeschrieben sei. Denn das fertige Mittel dürfe nur zugelassen werden, „wenn nachgewiesen ist, dass es keine sofortigen oder verzögerten schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen hat“.
Bisher seien entsprechende Studien nicht vorgelegt worden, erklärt Rechtsanwalt Guillaume Tumerelle: „Die Zulassungen für das Inverkehrbringen werden ohne langfristige Toxizitäts- und Karzinogenitätsanalyse der in Verkehr gebrachten Fertigprodukte erteilt.“ Für ihn folgt daraus, dass viele Zulassungen für Pestizide unverzüglich entzogen werden müssten. Denn die Behörden der Mitgliedsstaaten sind an die Auslegung des obersten europäischen Gerichts gebunden und müssen die Verordnung entsprechend umsetzen. [lf]