Gestern hat die neue europäische Gesundheitskommissarin, die Zypriotin Stella Kyriakides, ihre Arbeit aufgenommen. Wie wird sich die 63jährige, die auch für die Gentechnik in der Landwirtschaft zuständig ist, im Streit um die neuen gentechnischen Verfahren wie Crispr/Cas und die Konsequenzen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Sommer 2018 positionieren?
Das Urteil des EuGH, dass die neuen Technologien wie die „alte“ Gentechnik zu prüfen und zu regulieren sind, war von Umwelt- und Bioverbänden begrüßt, von Industrie und Forschung massiv angegriffen worden. Die neue Europäische Kommission hat politisch jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzt den Richterspruch um oder sie sorgt dafür, dass die dem Urteil zugrundeliegende Freisetzungsrichtlinie geändert wird. Diskutiert wird, ob für die neuen Gentechnikverfahren zumindest in bestimmten Fällen andere Regeln erlassen werden sollen als für die alten. Wie sich die Brüsseler Gremien entscheiden werden, dafür gibt es bislang nur Indizien:
Einiges Aufsehen erregte jüngst bereits ein geleaktes Arbeitspapier aus der Brüsseler Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, die für die EU-Gesundheitskommissarin arbeitet. Der „vorläufige Aktionsplan“, der dem Infodienst Gentechnik vorliegt, möchte eine ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion fördern, die Umwelt und Klima schützt. Dafür ist unter zahlreichen anderen Maßnahmen auch eine Gesetzesinitiative aufgeführt, die einen „neuen, zweckmäßigen Regelungsrahmen“ für die neuen Gentechnikverfahren schaffen soll. Was die neue Gesundheitskommissarin von diesem Papier hält und ob sie sich diesen Aktionsplan zu eigen machen wird, ist bislang allerdings nicht bekannt.
Dass sie dafür offen sein könnte, zeigt eine Äußerung von Stella Kyriakides im EU-Parlament, wo die Kandidatinnen für die neue EU-Kommission im Oktober befragt worden waren. Dort ließ sie auf Nachfrage durchblicken, dass sie sich vorstellen könnte, die Regeln für neue Gentechnikverfahren zu überarbeiten. Wie die neuen Regeln aussehen sollen, blieb allerdings offen. Auch die „Farm to Fork“- Strategie (sinngemäß: vom Feld bis auf den Teller) für die Agrarpolitik der neuen EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen gibt keinen genauen Aufschluss. In einem vorläufigen Papier zur Politik des „European Green Deal“ von Vizekommissionschef Frans Timmermans, die kommende Woche vorgestellt werden soll, heißt es nur: Die EU-Kommission werde im Frühjahr 2020 ein Papier vorlegen, welche Initiativen sie im Rahmen der „Farm to Fork“- Strategie bis Ende 2020 ergreifen werde. Eine davon werde das Urteil des EuGH zur neuen Gentechnik betreffen.
Umweltverbände und Lebensmittelwirtschaft sind dennoch bereits alarmiert: „Die Europäische Kommission plant, bestehende Gentechnik-Schutzstandards aufzuweichen“, warnte etwa Greenpeace Österreich. „Diese Schutzstandards garantieren bisher, dass keine gentechnisch veränderten Pflanzen auf unseren Feldern oder Tellern landen, ohne dass sie einer umfassenden Risikobewertung unterzogen wurden.“ Greenpeace forderte von der Europäischen Kommission, die bestehenden Schutzstandards aufrecht zu erhalten. Auch der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) kritisierte, dass die neue EU-Kommission die neuen Gentechnikverfahren offenbar weniger streng regulieren will als die alten. Das nehme den Verbrauchern die Wahlfreiheit und nütze nur der Agrarindustrie, warnte Daniela Wannemacher vom BUND.
„Konsumenten wollen ganz klar keine Gentechnik im Essen; Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie wollen ohne Gentechnik arbeiten; der Lebensmittelhandel will keine gentechnisch veränderten Produkte verkaufen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Verfahren der ‚Neuen Gentechnik‘,“ sagte auch der Geschäftsführer der ARGE Gentechnik-frei, die 200 österreichische Unternehmen aus Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion und -handel vertritt. Die EU-Kommission müsse jetzt daran arbeiten, das EuGH-Urteil abzusichern und umzusetzen, forderte Florian Faber. Alles andere koste sie ihre Glaubwürdigkeit. „Denn niemand wird einer Gentechnik-kritischen europäischen Öffentlichkeit vermitteln können, dass gentechnische Verfahren, die das oberste europäische Gericht als Gentechnik eingestuft hat, aufgrund einer Gesetzesänderung plötzlich keine mehr sein sollen,“ warnte Faber. [vef]