Umweltschutz versus Pestizideinsatz, Nährstoffanreicherung versus Gesundheitsgefahren, Vorsorgeprinzip versus Innovation: Bei einer öffentlichen Sitzung haben Europas Agrarminister gestern zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte darüber aufgerufen, wie der Einsatz neuer gentechnischer Verfahren in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion künftig gesetzlich geregelt werden soll. Lebensmittelketten und Umweltschützer warnten davor, die geltenden Regeln aufzuweichen.
Wie die europäische Gesundheitskommissarin waren auch zahlreiche Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten der Ansicht, dass die geltenden, teils 20 Jahre alten Vorschriften des europäischen Gentechnikrechts den neuen wissenschaftlichen Entwicklungen nicht mehr gerecht würden. Ein wesentlicher Diskussionspunkt war, ob bei bestimmten Produkten neuer gentechnischer Verfahren wie Crispr/Cas, die die Gene der Pflanzen teils nur in winzigen Punkten verändern, die Regeln über Risikoprüfung und Kennzeichnung geändert werden sollten. Dabei waren die Meinungen unter den Mitgliedsstaaten breit gefächert; teils divergierten sie innerhalb einzelner Länderregierungen.
So hob Bundesagrarministerin Julia Klöckner die Chancen der neuen Pflanzenzüchtung hervor, die gezielter, schneller und erfolgreicher sein könne als die herkömmliche Züchtung. „Ich plädiere persönlich auch dafür, dass wir hier den Rechtsrahmen anpassen“, sagte die CDU-Politikerin. Die mit dem Bundesumweltministerium (BMU) abgestimmte Position der Bundesregierung, die Klöckner mit auf den Weg gegeben worden war, liest sich etwas offener: Deutschland spreche sich dafür aus, „ergebnisoffen nach den besten Lösungen für die offenen Fragen und Herausforderungen zu suchen“, so eine Sprecherin des BMU auf Anfrage des Infodiensts. Das bedeute „sowohl nach Ansätzen im bestehenden Rechtsrahmen zu suchen, als auch zu überlegen, wie die Rechtsvorschriften belastbarer und zukunftssicherer im Rahmen der primärrechtlichen Leitplanken der EU gemacht werden können.“ Einigkeit besteht offenbar darin, dass die Auswirkungen der neuen Techniken auf Mensch, Tier und Umwelt wissenschaftsbasiert ermittelt werden sollen und das europäische Vorsorgeprinzip beachtet werden soll.
Auch mehrere andere EU-Staaten sowie Gesundheitskommissarin Kyriakides betonten, dass neue gesetzliche Regeln unbedingt das europarechtliche Vorsorgeprinzip berücksichtigen müssten: Die Sicherheitsstandards für Gesundheit und Umwelt müssten gehalten werden. Länder wie Frankreich und Dänemark legten dagegen Wert darauf, dass künftige Regeln für neue Gentechnikverfahren Raum für Innovation lassen. Ebenso wie die Niederlande können sie sich vorstellen, bestimmte Produkte neuer gentechnischer Verfahren (NGT) von der Risikobewertung auszunehmen. Auch Stella Kyriakides verwies auf wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach bestimmte NGT-Pflanzen ebenso sicher seien wie konventionell gezüchtete. Länder wie Irland und die Slowakei sorgten sich dagegen um die gentechnikfreie Existenz der ökologischen Landwirtschaft, deren Zukunft in ihren Augen vorrangig gesichert werden müsse. Die EU-Kommission plane eine umfangreiche Kommunikationsoffensive, um die Ergebnisse der Studie und die nächsten Schritte in den kommenden Monaten mit den Mitgliedstaaten, dem europäischen Parlament und den Stakeholdern zu diskutieren, heißt es auf ihrer Webseite. Diese Debatte soll auch die geplante Folgenabschätzung begleiten.
Die europäische Umweltorganisation Frieds of the Earth (Freunde der Erde) ruft alle Beteiligten dazu auf, das nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Sommer 2018 geltende Recht beizubehalten. Danach müssen auch NGT-Produkte auf Risiken geprüft, zugelassen und gekennzeichnet werden. So könne man am besten sicherstellen, dass in der EU nur sichere Pflanzen angebaut, das Wahlrecht der Verbraucher erhalten und wirklich innovative, umweltfreundliche Ernährungssysteme gefördert werden.
In ein ähnliches Horn blasen Unternehmen und Verbände der europäischen Lebensmittelwirtschaft: „Wir bestehen darauf, dass die aktuell gültige EU-Gentechnikgesetzgebung – mit dem Vorsorgeprinzip, einer Risikobewertung und klaren Anforderungen an Transparenz als wesentlichen Eckpfeilern – auch weiterhin für neue GVOs angewendet wird. Neue GVOs müssen genauso reguliert bleiben wie alte GVOs“, heißt es in einer Resolution, die der europäische Ohne Gentechnik-Verband ENGA zum Agrarministerrat veröffentlichte. Unterzeichnet haben diese „Retailer Resolution“ zahlreiche, vor allem deutschsprachige Lebensmitteleinzelhändler, darunter Aldi, Lidl, Metro und die wichtigsten österreichischen Handelsketten. Auch die Bio-Filialisten Alnatura und Denn‘s, der Großhändler Dennree und der Bundesverband Naturkost Naturwaren unterstützen den Vorstoß. Sie alle eint die Sorge, die EU-Kommission könne der Gentechnik-Lobby nachgeben und die Regeln für die neuen gentechnischen Verfahren aufweichen.
„Als Einzelhändler sind wir voll verantwortlich und haftbar für die Sicherheit aller Produkte, die wir verkaufen“, argumentieren die Unternehmen. Das Risiko, ungeprüfte und nicht gekennzeichnete GVO aus den Verfahren der Neuen Gentechnik ungewollt und unwissentlich zu verkaufen, sei für sie inakzeptabel: „Volle Transparenz und Wahlfreiheit für unsere Kundinnen und Kunden ist einer unserer wichtigsten Werte.“
Harald Ebner, Sprecher für Gentechnik der grünen Bundestagsfraktion, mahnte die Bundesregierung, sie müsse „die Bedenken der Handelsunternehmen gegenüber jeglicher Deregulierung der neuen Gentechniken wie Crispr/Cas ernst nehmen“. Nachweisverfahren und Nachverfolgbarkeit entlang der gesamten Herstellungskette seien dringend notwendig. Auch die agrarpolitische Sprecherin der Fraktion „Die Linke“ im Bundestag forderte die EU-Kommission und die Bundesregierung auf, dem Vorsorgeprinzip zu folgen. Die Landwirtschaft brauche einen Systemwechsel hin zu einer regionaleren, klimagerechteren und sozialeren Lebensmittelproduktion, so Kirsten Tackmann. [vef/lf]