Die französische Organisation Générations Futures (GF, dt.: künftige Generationen) hat einen vorläufigen amtlichen Bericht zu den Risiken von Glyphosat als verzerrt und unzureichend kritisiert. Die vier nationalen Behörden, die den Bericht im Auftrag der Europäischen Union (EU) für eine mögliche Neuzulassung des Unkrautvernichters verfassten, hätten Tausende oft kritischer Studien als nicht relevant eingestuft, so GF. Ihre Stellungnahme ist einer von mehr als 400 Kommentaren, die während einer zweimonatigen Konsultation der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA zu Glyphosat eingingen.
Soll in der EU ein Pestizid zugelassen oder seine Zulassung verlängert werden, erstellen im Sinne der Arbeitsteilung Behörden ausgewählter Mitgliedsländer einen Entwurf für die Risikobewertung des Wirkstoffs. Im Fall des laufenden Verlängerungsantrags für Glyphosat waren das Frankreich, Ungarn, die Niederlande und Schweden. Wie berichtet bewertete ihr im September veröffentlichter Report (RAR) Glyphosat als unschädlich für Gesundheit und Umwelt. Générations Futures (GF) haben das 11.000 Seiten-Werk seither genauer analysiert: Aus den vergangenen zehn Jahren liste der RAR-Bericht 7781 wissenschaftliche Arbeiten zu Glyphosat auf. Sie beschrieben, wie giftig und umweltschädlich das Totalherbizid sei und wie es auf menschliche und tierische Hormone wirke. Von diesen Arbeiten hätten die Länderbehörden 6644 als irrelevant aussortiert. GF gehen davon aus, dass die Behörden dafür in der Regel nur den Titel und die Kurzzusammenfassung der Studien gelesen haben.
Von den verbleibenden 1137 Studien stuften die Behörden nach GF-Analyse ganze 30 als so relevant und hilfreich ein, dass sie in die Risikoabschätzung einbezogen wurden. Aussortiert worden seien etwa alle Studien, die nicht an Säugetieren durchgeführt wurden oder solche, die die Wirkung von Glyphosat auf der Ebene der Zellen erforschten. Auch Studien aus Asien oder Südamerika seien unter den Tisch gefallen, weil sie nicht vergleichbar mit den Bedingungen in Europa seien. Nach den Regeln für Pestizidzulassungen in der EU sollen die Behörden neben der Relevanz auch prüfen, wie verlässlich die Studien sind, also wie belastbar und aussagekräftig die angewandten Methoden. Dieser Prozess sei intransparent verlaufen und ein von der EU-Kommission für diese Prüfung vorgesehenes Verfahren nicht angewandt worden, kritisierte Générations Futures. Ferner seien die meisten Industriestudien, auf die sich der RAR vor allem stützt, alt und untauglich. Dies hatte der Wiener Toxikologie-Professor Siegfried Knasmüller bereits im September in einem Bericht aufgezeigt. Jetzt legte er noch eine Untersuchung nach, in der er elf von den Herstellern neu vorgelegte Studien analysierte. Nur zwei davon bewertete er als zuverlässig.
Damit sich die EFSA mit diesen Argumenten offiziell auseinandersetzen muss, haben Générations Futures und Knasmüller ihre Berichte in die öffentliche Konsultation der EFSA zu Glyphosat eingespeist, die am 22. November zu Ende ging. Unter den mehr als 400 Kommentaren, die alle öffentlich zugänglich sind, waren 144 aus Argentinien, 125 aus Frankreich und 29 aus Deutschland, heißt es auf der EFSA-Webseite. In Argentinien und Frankreich hätten sich mehrere Agrarverbände beteiligt, die sich der Bewertung des RAR anschlossen oder deren Mitglieder betonten, wie wichtig Glyphosat für ihre Arbeit sei. Zahlreiche Kommentare stammten von Umweltorganisationen und Wissenschaftlern, die oft einzelne neue Arbeiten oder ganze Verzeichnisse unberücksichtigter Studien an die Kommission schickten. Auch der Umweltverband BUND hatte sich an der Konsultation beteiligt. „Die Gefahren von Glyphosat sind enorm. Zusätzlich zur Bedrohung der Artenvielfalt stellt das Totalherbizid ein Krebsrisiko für Menschen dar“, fasste Martha Mertens, Sprecherin des BUND-Arbeitskreises Gentechnik, die Argumente zusammen. Die Biologin betonte, dass bei der Risikobewertung die Wirkung von Glyphosat auf Mikroorganismen im Boden und im Verdauungstrakt von Tieren „bisher komplett unterschätzt wurde“.
Nach Abschluss der Konsultation werden der Antragsteller und die berichterstattenden Mitgliedsstaaten (AGG) gebeten, auf alle eingegangenen Stellungnahmen zu reagieren, schreibt die EFSA auf ihrer Webseite. „Die EFSA ermittelt dann alle noch offenen Fragen, die ihrer Ansicht nach in einer Sachverständigensitzung behandelt oder weiterverfolgt werden müssen, und fordert gegebenenfalls zusätzliche Informationen vom Antragsteller an.“ Danach müsse die AGG einen überarbeiteten Risikobericht vorlegen. Mit einer endgültigen Risikobewertung der europäischen Behörden sei in der zweiten Jahreshälfte 2022 zu rechnen. Das letzte Wort werden dann die EU-Mitgliedsstaaten haben. Anders als 2017 der Vertreter des CSU-Agrarressorts ist die neue deutsche Ampelkoalition dagegen, Glyphosat in der EU über 2022 hinaus zu genehmigen. Die aktuelle Zulassung läuft am 15.12.2022 aus. [lf/vef]