+++ UPDATE +++ Überraschend haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) am Freitag nicht mit der erforderlichen Mehrheit dafür gestimmt, den Unkrautvernichter Glyphosat ein Jahr länger zuzulassen, um ihn intensiver prüfen zu können. Deutschland, Frankreich und Slowenien haben sich enthalten. Sollte der Vorschlag der EU-Kommission auch im Berufungsausschuss keine qualifizierte Mehrheit finden, kann diese die Mitte Dezember auslaufende Zulassung des umstrittenen Totalherbizids selbst verlängern.
Ursprünglich sollte der Verlängerungsantrag der Agrarchemieindustrie unter Führung des Bayerkonzerns aus dem Jahr 2019 bis 15. Dezember dieses Jahres bearbeitet sein. An diesem Tag endet die aktuelle Genehmigung. Da Wissenschaft und Gesellschaft sich jedoch mit mehr als 3000 Seiten Stellungnahmen am Verfahren beteiligten, hisste die europäische Lebensmittelbehörden EFSA bereits im Mai diesen Jahres die rote Flagge: Um alle Eingaben angemessen prüfen und berücksichtigen zu können, brauche man bis zum Sommer 2023 Zeit (der Infodienst berichtete). Wie die EU-Kommission auf ihrer Webseite ausführt, diene das der Rechtssicherheit der späteren Zulassungsentscheidung und sage nichts darüber aus, wie diese nach abgeschlossener Prüfung ausfallen werde.
Die Kommission bedauere, dass die Mitgliedstaaten ihren Vorschlag nicht unterstützt hätten, obwohl sie in diesem Fall rechtlich verpflichtet sei, die Zulassung zu verlängern, teilte eine Sprecherin dem Infodienst Gentechnik mit. Zwar habe im zuständigen Ausschuss eine Mehrheit der 27 EU-Mitglieder für die Verlängerung gestimmt. Die nötige qualifizierte Mehrheit von Staaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, sei jedoch nicht erreicht worden. Wie die Nachrichtenagentur Agra Europe berichtete, votierten Kroatien, Luxemburg und Malta dagegen, die aktuelle Zulassung von Glyphosat um ein Jahr zu verlängern. Slowenien sowie die bevölkerungsreichen Länder Deutschland und Frankreich enthielten sich. So sei das erforderliche Quorum von 65 % der EU-Bevölkerung knapp verfehlt worden.
Der grüne Agrarminister Cem Özdemir begründete seine Enthaltung damit, dass er einerseits einer rechtssicheren Entscheidung nicht im Wege stehen wolle. Andererseits sei die EU-Kommission schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen worden, dass die Auswirkungen von Glyphosat auf die biologische Vielfalt in dem Genehmigungsverfahren eine maßgebliche Rolle spielen müssten. Wie Agra Europe berichtet, habe sich ferner der Koalitionspartner FDP dafür eingesetzt, dass diese technische Übergangszulassung nicht politisiert werde. Für die Zukunft wünschten sich die Liberalen eine Entscheidung nach wissenschaftlichen Kriterien.
Für Cem Özdemir ist klar, dass Glyphosat in Deutschland ab 1.1.2024 verboten wird, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart und in der geltenden Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung bereits verankert ist. Er werde sich auch auf EU-Ebene mit aller Kraft dafür einsetzen, dass das Totalherbizid nach Abschluss der Prüfung endgültig verboten wird, hatte der Agrarminister Ende September im deutschen Bundestag angekündigt. Sollte das nicht gelingen, müsse eine nationale Lösung für Deutschland gefunden werden. Er sei zwar an das europäische Recht gebunden, werde aber alle juristischen Möglichkeiten ausschöpfen, das vereinbarte Verbot in Deutschland umzusetzen.
Die Umweltorganisation Greenpeace äußerte sich enttäuscht, dass der grüne Agrarminister nicht dagegen gestimmt hatte, das umwelt- und gesundheitsschädliche Herbizid ein Jahr länger zuzulassen. „Der hohe Glyphosateinsatz schädigt die Artenvielfalt massiv“, kritisierte Landwirtschaftsexpertin Christiane Huxdorff. „Es gibt viel bessere und intelligentere, spezifisch wirkende Möglichkeiten, Ackerunkräuter in Schach zu halten, als über ein Totalherbizid, das sämtliche Pflanzen tötet.“ Bereits im Vorfeld der heutigen Entscheidung hatte der Bund für Umwelt- und Naturschutz eine sozial-ökologische Transformation in der Landwirtschaft und eine deutliche Reduktion des Pestizideinsatzes gefordert. Denn bislang steigt der Glyphosatverbrauch weiterhin. 2021 seien 4100 Tonnen versprüht worden; 2020 waren es noch knapp 3800 Tonnen. Der Anbauverband Bioland hatte von Özdemir verlangt, sämtliche Totalherbizide zu verbieten. „Der Einsatz von Totalherbiziden widerspricht der Biodiversitätsstrategie der EU-Kommission”, sagte der Leiter Agrarpolitik, Gerald Wehde. "Auch die EU-Kommission muss endlich klare Kante zeigen und ihre durchaus guten Strategien selbst ernst nehmen!”
Als nächster wird in der Causa Glyphosat nun der Berufungsausschuss der Mitgliedsländer entscheiden - nach Informationen von Agra Europe spätestens in drei Wochen. Sollte dort wieder keine qualifizierte Mehrheit in die ein oder andere Richtung zustande kommen, kann die EU-Kommission das Pflanzengift selbst für ein weiteres Jahr zulassen. Auf die Frage, ob das bis 15. Dezember klappen wird, sagte ein Sprecher dem Portal Euractiv, die EU-Kommission werde „alles in ihrer Macht Stehende tun“, um das Verfahren zu beschleunigen. [vef]
Update 17.10.: Verfahrensdetails von Agra Europe und Euractiv ergänzt.