Jetzt ist es amtlich: Die Europäische Kommission schlägt vor, die meisten mit neuen gentechnischen Verfahren (NGT) hergestellten Pflanzen ungeprüft und ohne Kennzeichnung auf den Markt zu lassen. Darunter dürfen jetzt auch herbizidtolerante Pflanzen sein. Damit hat die Kommission ihren Verordnungsentwurf kurzfristig noch einmal verändert – zur Freude der Gentech-Konzerne, die solche Pflanzen schon in der Pipeline haben.
Ansonsten unterscheidet sich der heute vorgelegte Regelungsentwurf nur in Details von der Fassung, die Medien Mitte Juni vorab zugespielt wurde. Er gilt nur für Pflanzen, die mit gezielter Mutagenese oder Cisgenese gentechnisch verändert wurden, also mit Genmaterial von kreuzbaren Pflanzen. Nur diese sind NGT-Pflanzen im Sinne des Entwurfs. Für Pflanzen, denen mit neuen gentechnischen Verfahren fremde Gene eingefügt wurden, sollen nach dem Willen der EU-Kommission weiter die bisherigen Regeln gelten. Die so definierten NGT-Pflanzen und daraus hergestellte Lebens- und Futtermittel teilt der Entwurf in zwei Kategorien ein. Pflanzen der Kategorie 1 sollen nicht mehr unter das bisherige Gentechnikrecht fallen. Damit gäbe es für sie keinerlei Risikoabschätzung mehr. Es würde nur noch das Saatgut gekennzeichnet, keine Lebens- oder Futtermittel aus diesen Pflanzen. Die EU-Kommission begründet dies damit, dass ihre gentechnischen Veränderungen theoretisch auch durch natürliche Mutation erzielt oder herkömmlich gezüchtet werden könnten.
Bei einer NGT 1-Pflanze erlaubt der Kommissionsentwurf den Gentechnikern maximal 20 genetische Veränderungen. Das heißt, sie dürfen bis zu 20 kleine Erbgut-Bausteine, die Nukleotide, einfügen oder ersetzen. Sie können dabei aber auch beliebig viele Gene an- oder abschalten sowie Genkonstrukte hinzufügen oder austauschen, die von Arten stammen, die natürlich oder mit biotechnologischer Hilfe mit der Pflanze gekreuzt werden können. Auf den Punkt gebracht: Für die EU-Kommission sind 20 derartige gentechnische Eingriffe noch keine Gentechnik.
Noch Mitte Juni hatte die EU-Kommission herbizidtolerante Pflanzen explizit aus der privilegierten Kategorie NGT 1 ausgeschlossen. Das sollte ihrem Ziel dienen, die neue Gentechnik für nachhaltige Zwecke einzusetzen, etwa um Pestizide zu reduzieren. Diesen Passus hat sie jetzt gestrichen. Zur Begründung schrieb sie auf Nachfrage: „Die möglichen Risiken eines potenziellen Anstiegs des Pestizideinsatzes durch herbizidtolerante Sorten müssen für alle Pflanzen angegangen werden, unabhängig davon, ob sie durch etablierte genomische Techniken, NGTs oder konventionelle Methoden gewonnen wurden.“ Sie habe daher in einem Regelungsentwurf für sämtliche Arten von Saatgut bestimmt, dass „die Mitgliedstaaten spezifische Anbaubedingungen für herbizidtolerante Sorten festlegen, um unerwünschte Auswirkungen aufgrund unangemessener landwirtschaftlicher Praktiken zu vermeiden“. Denn die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass mit dem großflächigen Anbau herbizidtoleranter Pflanzen mehr Pestizide eingesetzt werden – das Gegenteil von dem was die Kommission eigentlich anstrebt. Agrarkonzerne freuen sich, dass solche Pflanzen künftig in der Kategorie NGT 1 erleichtert zugelassen werden sollen. Das Gemeinsame Forschungszentrum der EU-Kommission (JCR) hatte 2021 deren Forschungspipelines untersucht und dabei sechs genomeditierte herbizidtolerante Pflanzen gefunden, die vor der Markteinführung standen.
Mit den jetzt freigegebenen Eingriffen können die Molekularbiologen in vielen Bereichen weit tiefer in das Erbgut von Pflanzen eingreifen als mit den streng regulierten alten gentechnischen Verfahren. Ein Beispiel dafür ist die in Japan entwickelte GABA-Tomate. Ihre Entwickler haben darin einige Gene abgeschaltet und erreicht, dass die reifen Früchte große Mengen des Botenstoffes Gamma-Aminobuttersäure (GABA) enthalten. Dieser soll den Blutdruck senken und den Schlaf fördern. Nach den neuen Regeln der EU-Kommission könnte die GABA-Tomate als NGT 1-Pflanze ohne Kennzeichnung auf den Markt kommen. Niemand wüsste mehr, ob er mit dem Verzehr einer Tomate oder einer Flasche Ketchup seinen Blutdruck beeinflusst.
Für die Biolandwirtschaft bleiben NGT 1-Pflanzen als Gentechnik verboten. Da das Saatgut gekennzeichnet werden muss, können Bio-Landwirt:innen weiterhin gentechnikfreies Saatgut wählen. Doch sie können sich kaum noch dagegen wehren, dass NGT 1-Pflanzen ihre Erzeugnisse verunreinigen. Weil es für diese Pflanzen kein Standortregister mehr geben soll, wissen die Bio-Landwirt:innen nicht, was die Nachbarn anbauen – sofern sie es nicht selbst herausfinden. Es sollen keine Sicherheitsabstände oder sonstige Schutzmechanismen mehr gelten, wie sie das geltende Gentechnikrecht vorschreibt - auch nicht für Feldversuche. Die Haftungsregelungen, wie sie für klassische Gentechnik gelten, will die Kommission ebenfalls streichen. Und anders als bisher hätten gentechnikkritische Mitgliedsstaaten auch keine Möglichkeit, den Anbau von NGT 1-Pflanzen auf ihrem Gebiet zu verbieten.
Die zweite Kategorie im Kommissionsentwurf sind die NGT 2-Pflanzen. Darunter fallen diejenigen, bei denen mehr als 20 gentechnische Eingriffe vorgenommen, aber kein transgenes, also artfremdes Erbgut eingeführt wurde. Für sie gelten kurze Fristen für eine Zulassung und das Risiko soll fallbezogen bewertet werden. Die Details dazu will die Kommission später regeln. NGT 2-Pflanzen müssten die Hersteller und Verarbeiter weiter kennzeichnen, dürften aber dazu schreiben, wie nachhaltig sie angeblich sind. Die EU-Kommission will die Mitgliedstaaten verpflichten, für diese Pflanzen Koexistenz und Haftung zu regeln. Ob der Europäische Rat diesen Schwarzen Peter akzeptieren wird, wird sich im Rahmen der Trilogverhandlungen zeigen.
Die Österreichische Regierung hat heute bereits angekündigt, den NGT-Entwurf als Ganzes zurückzuweisen: „Dass die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten zwingt, den unkontrollierten Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen zu erlauben, ist inakzeptabel”, verkündeten drei Minister:innen unisono. „Wir werden das nicht zulassen, uns daher mit aller Kraft in Brüssel dafür einsetzen, dass auch weiterhin strenge Regeln für gentechnisch veränderte Pflanzen und Lebensmittel gelten.“ Das verlange das Vorsorgeprinzip, die Wahlfreiheit der Konsument:innen und Produzent:innen sowie der Schutz der österreichischen Landwirtschaft, so die Ressortchef:innen für Umwelt, Verbraucher und Landwirtschaft.
Die deutsche Ampelkoalition ist sich noch uneins. Klar gegen eine Deregulierung von NGT sprechen sich Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) und Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) aus. „Da es nahezu unmöglich ist, einmal freigesetzte gentechnisch veränderte Pflanzen wieder aus der Umwelt zu entfernen, brauchen wir eine Sicherheitsprüfung“, fordert Lemke. „Auch die neuen gentechnischen Methoden ermöglichen tiefgreifende Veränderungen am Erbmaterial von Pflanzen. Ich werde mich im nun folgenden europäischen Prozess dafür einsetzen, dass das Vorsorgeprinzip, die Wahlfreiheit und die Transparenz gewahrt bleiben." Für eine Lockerung der Regeln für neue Gentechnik, wie die EU-Kommission sie plant, trommelt seit Tagen Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Das grün geführte Agrarministerium ist in sich selbst gespalten: Während Staatssekretärin Silvia Bender bereits mehrfach dafür plädiert hat, die geltenden, strengen Regeln für alle gentechnischen Verfahren beizubehalten, hatte sich ihr Amtschef Cem Özdemir dazu bislang nicht positioniert. Heute nun kritisierte er am EU-Entwurf, dass er weder das Nebeneinander von gentechnischer und gentechnikfreier Landwirtschaft noch die Frage der Patentierung von NGT-Pflanzen ausreichend regele. Zu den Erleichterungen für die neuen Pflanzenkategorien NGT 1 und 2 schwieg er beredt. Im weiteren Verfahren werde sein Ministerium „sich konstruktiv einbringen, um die gentechnikfreie Agrarwirtschaft sicherzustellen und für eine gemeinsame Linie der Bundesregierung werben", kündigte der Minister an.
Nun müssen das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten im Ministerrat jeweils einen Standpunkt zu diesem Kommissionsvorschlag erarbeiten. Die soeben gestartete spanische Präsidentschaft hat bereits angekündigt, das Thema energisch voranzutreiben. Sollte sich die Bundesregierung nicht einig werden, wird sie sich im Ministerrat enthalten müssen. Danach suchen beide EU-Gremien zusammen mit der EU-Kommission nach einem abschließenden Kompromiss. Dieser muss schließlich noch einmal formell von Parlament und Rat bestätigt werden. Die Zeit dafür wird knapp. Denn im Juni 2024 wird das Europäische Parlament neu gewählt. Werden bis dahin keine NGT-Regeln verabschiedet, ist ihr Schicksal in der neuen Legislaturperiode wieder ungewiss. [lf/vef]