Würden die Regeln für Produkte neuer gentechnischer Verfahren (NGT) gemäß den Vorschlägen der Europäischen Kommission gelockert, könnten Verbraucher:innen in vielen Fällen nicht mehr feststellen, ob ein Lebensmittel gentechnisch veränderte Zutaten enthält. Das bemängelten die Handelskonzerne ALDI Nord, ALDI Süd und REWE auf Anfragen gentechnikkritischer Organisationen. Mehrheitlich begrüßte der Handelsverband Lebensmittel (BVLH) jedoch die Pläne der EU-Kommission, bestimmte NGT-Pflanzen von den Prüf- und Kennzeichnungsvorschriften des Gentechnikrechts auszunehmen.
Auf Anfrage der Aurelia-Stiftung sprachen sich ALDI Nord und ALDI Süd dafür aus, NGT-Produkte auch weiterhin als solche zu kennzeichnen, um den Kund:innen die Wahl zu lassen, ob sie Lebensmittel mit oder ohne Gentechnik kaufen wollen. Neben einer Transparenz entlang der Lieferkette spreche das Vorsorgeprinzip für eine angemessene Risikobewertung solcher Produkte, so der Discounter. „Dass mit ALDI einer der weltweit größten Discounter für Wahlfreiheit und Risikoprüfung bei Neuer Gentechnik eintritt, ist eine gute Nachricht für Menschen, Artenvielfalt und stabile Ökosysteme“, lobte Bernd Rodekohr von der Aurelia-Stiftung für die Biene. „Denn ohne einzelfallbezogene, wissenschaftsbasierte Risikoprüfung lassen sich schädliche Auswirkungen von NGT-Pflanzen mit neuen Eigenschaften für das Ökosystem nicht sicher ausschließen.“
Ähnlich hatte sich bereits im Oktober eine Vertreterin der REWE Group positioniert: „Es ist aus Sicht der REWE Group auch im Bereich der neuen gentechnischen Verfahren erforderlich, unter Verwendung dieser Techniken hergestellte Produkte einem Zulassungsverfahren einschließlich einer Risikoprüfung zu unterwerfen und die Prinzipien Rückverfolgbarkeit, Vorsorge und Kennzeichnung weiterhin zu berücksichtigen“, sagte Vorstandsmitglied Daniela Büchel anlässlich der Messe Anuga. Rechtssicherheit und Transparenz hätten oberste Priorität für ihr Unternehmen, das sowohl im BVLH auch im Vorstand des Verbands Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) vertreten ist. Dessen Geschäftsführer Alexander Hissting meint, EU-Kommission und Europaparlament könnten diese wichtigen Signale der drei großen Lebensmittelhandelsunternehmen im Sinne des Verbraucherschutzes nicht ignorieren. Entgegen den Zielen der EU-Kommission im laufenden Gesetzgebungsverfahren müsse diese dafür sorgen, dass auch künftig alle Arten neuer Gentechnik umfassend gekennzeichnet werden. Der VLOG vergibt ein freiwilliges Ohne-Gentechnik-Siegel für tierische Lebensmittel, die ohne gentechnisch verändertes Futter erzeugt wurden – ein Markt mit einem Jahresumsatz von rund 16 Milliarden Euro.
Edeka und die Schwarz Gruppe (Lidl) hätten sich in der Umfrage der Aurelia-Stiftung dagegen ausgesprochen, nur minimal veränderte NGT-Pflanzen verpflichtend zu kennzeichnen und ihre Risiken für Gesundheit und Umwelt zu prüfen, bedauerte Rodekohr. Die Unternehmen beriefen sich dabei auf ein Gentechnik-Positionspapier des Branchenverbandes BVLH, das den EU-Kommissionsvorschlag unterstützt, die Regeln für NGT-Produkte zu lockern. Der Handel befürworte mit großer Mehrheit den Verordnungsvorschlag der EU-Kommission, der die rechtlichen Regeln für NGT-Produkte an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt anpassen soll, heißt es in dem Papier von Ende Oktober. Denn die wachsende Weltbevölkerung müsse ernährt werden. Die Verbraucher:innen hätten genug Wahlfreiheit, wenn – wie von der Kommission geplant – nur Produkte mit mehr als 20 gentechnischen Veränderungen gekennzeichnet würden. Skeptisch sieht der Handel jedoch, dass der Entwurf der EU-Kommission erlauben will, weitere Details dieser privilegierten Kategorie in sogenannten „delegierten Rechtsakten“, also ohne das übliche europäische Gesetzgebungsverfahren festzulegen. Das sieht nämlich vor, dass sich – wie es derzeit geschieht - Europäisches Parlament und Rat eine Meinung zu einem Vorschlag bilden, bevor sie sich im Trilog mit EU-Kommission auf eine Regelung einigen.
Kritisch sieht der Handelsverband Lebensmittel ferner den Punkt Koexistenz: Nach dem Entwurf müssen die EU-Mitgliedstaaten regeln, dass NGT-Pflanzen nicht unbeabsichtigt in den ökologischen oder gentechnikfreien konventionellen Anbau geraten. Hier „bedarf es praxistauglicher Regeln zur Koexistenz, damit Unternehmen, die weiterhin gentechnikfrei wirtschaften wollen, hierzu auch künftig in der Lage sind“, so der BVLH. „Ob die hierfür bereits vorgesehenen Regelungselemente ausreichen, muss angezweifelt werden.“ Der Verband vermisst ferner Reglungen zum Patentrecht, die verhindern, dass NGT-Pflanzen patentiert werden können. Anderenfalls könnte „die Vielfalt und Unabhängigkeit durch das Verhalten einzelner Patentrechtsinhaberinnen und -inhaber eingeschränkt werden“. [vef]