Auf europäischer Ebene haben die Hersteller des Unkrautvernichters Glyphosat einen Etappensieg errungen: Risikobewerter aus vier EU-Mitgliedsstaaten halten das Totalherbizid weiterhin für unschädlich für Gesundheit und Umwelt; es könne bis zum Jahr 2037 genehmigt werden. Der deutsche Bundesrat will den Glyphosat-Einsatz hierzulande dagegen am Freitag ab 2023 beschränken – eigentlich.
Die zuständigen Behörden Frankreichs, Ungarns, der Niederlande und Schwedens – die von der EU-Kommission beauftragte Bewertungsgruppe für Glyphosat (Assessment Group of Glyphosate, AGG) – kommen auf rekordverdächtigen 11.000 Seiten zu der Einschätzung, dass das Pflanzengift weder krebserregend sei, noch Organe, den Hormonhaushalt oder die Fruchtbarkeit schädige. Der Bericht, den die AGG der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA vergangene Woche vorlegte, basiert nach offiziellen Angaben im Wesentlichen auf einem 180.000seitigen Dossier von acht Glyphosat-Herstellern. Diese Glyphosate Renewal Group (GRG, dt.: Glyphosat-Erneuerungsgruppe) hatte der AGG das Dossier im Juni 2020 als Teil ihres Antrags eingereicht, die Zulassung von Glyphosat in der Europäischen Union über 2022 hinaus zu verlängern.
Dieses Dossier wiederum ähnelt offenbar in weiten Teilen seiner Vorgängerversion aus dem Jahr 2015 (Verlängerungsantrag für 2017): Von den rund 1500 wissenschaftlichen Studien zu Glyphosat, von denen viele die Agrarchemieunternehmen selbst erstellten, seien etwa 100 neu, heißt auf der GRG-Webseite. Neu ist auch, dass man die Studien und andere Inhalte des Dossiers jetzt bei der GRG anfordern kann. „Dass die aktuelle Bewertung nun im Wesentlichen weiter auf alten Studien auf Basis teilweiser überholter Leitlinien oder mit zweifelhaften Kontrolldaten beruhen soll, ist unfassbar“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete und Pestizidexperte Harald Ebner. Da sei es wenig überraschend, dass man auch zum selben Ergebnis komme wie in der Vergangenheit, ergänzt die Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG).
Ebner kritisiert unisono mit der österreichischen Umweltorganisation „Global 2000“, dass trotz anhaltender Kontroversen und Zehntausender Klagen krebskranker Glyphosatnutzer in den USA keine neuen Krebsstudien mit Tierexperimenten durchgeführt wurden. Auch aktuelle Langzeitstudien fehlten. „Das ist unfassbar verantwortungslos und fahrlässig“, schimpft der Umweltchemiker von „GLOBAL 2000“, Helmut Burtscher-Schaden. „Das Gesetz verlangt, dass Pestizidhersteller anhand von Studien auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft darlegen, dass ihr Pestizid die Voraussetzungen für eine Zulassung erfüllt." Die CBG führt neuere Studien an, die „auf deutliche gentoxische, reproduktionstoxische, hormonelle und zellschädigende (Plazenta, Nabelschnur, Embryo) Wirkungen“ hinweisen. Die Erkenntnisse der Weltgesundheitsorganisation WHO, die 2015 auf der Basis von Untersuchungen des Herstellers Monsanto zu dem Ergebnis kam, Glyphosat sei „wahrscheinlich krebserregend“, hätten die EU-Behörden auf durchsichtige Weise angezweifelt, so die CBG.
„Die EU-Risikobewertungsbehörden und die Wissenschaft sind nun gefordert, die Schlussfolgerungen der Berichte gründlich zu prüfen und herstellerunabhängige Studien angemessen zu berücksichtigen“, so der Abgeordnete Ebner. Dazu besteht im weiteren Verfahren noch reichlich Gelegenheit: Ab August wird es eine Konsultation zum AGG-Bericht geben, ab September mit Beteiligung der Öffentlichkeit. Auch die europäische Chemikalienagentur ECHA wird sich äußern. Die Schlussfolgerungen der beiden EU-Behörden sollen im Mai beziehungsweise Juni 2022 vorliegen. Spätestens dann müssen die Mitgliedsstaaten sich positionieren, die mit einer qualifizierten Mehrheit verhindern können, dass das Totalherbizid weitere 15 Jahre zugelassen wird. Ein Kenner der Brüsseler Vorgänge, den das Handelsblatt zitiert, hält es für wahrscheinlich, dass Glyphosat gestoppt wird: Die politische Stimmung gegen das Mittel sei sehr aufgeheizt.
Die aktuelle Bundesregierung wird dann nicht mehr im Amt sein. Sie hat aber noch ein Insektenschutzprogramm auf den Weg gebracht, das glyphosathaltige Spritzmittel ab 2024 komplett verbieten will (nach dem Ende der Zulassung 2022 ist noch eine Aufbrauchfrist vorgesehen). Am Freitag soll der Bundesrat über die entsprechende Verordnung entscheiden. In seiner vorletzten Sitzung dieser Legislaturperiode, deren Tagesordnung so lang ist wie noch nie in der 72jährigen Geschichte des Verfassungsorgans, ist das Thema Tagesordnungspunkt 110. Aber selbst wenn es dazu kommen sollte, dass die bereits einmal vertagte Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung verabschiedet wird, hat die Regierungskoalition ein Hintertürchen offengelassen: Sollte die EU-Kommission die Zulassung von Glyphosat über 2022 hinaus verlängern, könne eine Überprüfung der Verordnung erforderlich sein, heißt es in der Begründung. [vef]