Ein israelisches Unternehmen hat Legehennen gentechnisch so verändert, dass in ihren Eiern männliche Embryonen unter UV-Licht absterben und nur weibliche Küken schlüpfen. Sind letztere zu Hennen erwachsen, fielen weder diese noch ihre Eier unters Gentechnikrecht und dürften ohne Risikoprüfung und Kennzeichnung verkauft werden, meint die Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und das Institut Testbiotech kritisieren eine „Deregulierung durch die Hintertür“.
Das Schreiben der Generaldirektion Gesundheit (DG Sante) vom Juli 2021 an das deutsche Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) erhielt die AbL kürzlich auf eine Anfrage nach dem Umweltinformationsgesetz. Das BVL hatte die DG Sante um eine rechtliche Einschätzung gebeten, nachdem das Unternehmen, das die neue Technik entwickelt und zum Patent angemeldet hat, beim BVL danach gefragt hatte. Das erfuhr der Infodienst vom Bundeslandwirtschaftsministerium. Das Unternehmen wollte wissen, ob die überlebenden weiblichen Küken und später ihre Eier allein deshalb unter das Gentechnikrecht fallen, weil sie von einer gentechnisch veränderten (gv) Zuchthenne abstammen.
Der gentechnische Eingriff funktioniert wie folgt: Die Entwickler machten sich zunutze, dass beim Haushuhn die Hennen in ihrem Erbgut zwei verschiedene Geschlechtschromosomen haben, ein weibliches (W) und ein männliches (Z). Hähne haben dagegen zwei männliche (ZZ) Geschlechtschromosomen. Weibliche Küken bekommen von der Mutter ein W- und vom Vater ein Z-Chromosom; männliche Küken bekommen von Mutter und Vater je ein Z-Chromosom. Mit Hilfe des Gentechnikverfahrens Crispr/Cas veränderten die Wissenschaftler das männliche Z-Chromosom von Legehennen, das wie dargestellt nur auf männliche Nachkommen vererbt wird. Das dort eingebaute Konstrukt besteht aus einem Gen-Schalter, der durch UV-Licht angeregt wird und dann ein Letalitäts-Gen einschaltet, das den männlichen Embryo im Ei absterben lässt. Ausgebrütet werden nur noch weibliche Küken. Deren Z-Chromosom im Erbgut wäre unverändert, da es vom gentechnisch nicht manipulierten Vater stammt.
Die DG Sante folgerte daraus, dass die weiblichen Küken kein verändertes Erbgut enthielten und damit keine gentechnisch veränderten Organismen (GVO) seien. Deshalb könnten auch die Eier, die diese Tiere legen, wie gentechnikfreie Eier vermarktet werden. Die EU-Behörde wies in ihrem Schreiben aber auch darauf hin, dass es lediglich eine Einschätzung der Arbeitsebene enthalte, die für die EU-Kommission nicht bindend sei. Die AbL ist trotzdem in Sorge: „Die vorliegende Stellungnahme könnte so verstanden werden, dass die Legehennen und ihre Eier in der EU direkt vermarktet werden können, ohne Zulassungsprüfung und Kennzeichnung“, warnte Gentechnikexpertin Annemarie Volling. „Die Eier könnten so völlig unbemerkt in Verkehr gebracht werden. Damit würde die EU-Kommission das Gentechnikrecht und das Vorsorgeprinzip außer Kraft setzen.“
Diese Bedenken teilten AbL und Testbiotech dem EU-Vizepräsidenten und der Gesundheitskommissarin heute in einem offenen Brief mit. Nach der einschlägigen EU-Verordnung 1829/2003 gelten auch aus GVO hergestellte Produkte als GVO, selbst wenn das geänderte Erbgut sich in ihnen nicht mehr nachweisen lässt, heißt es dort. Beispiele sind etwa Soja-Öl aus gv-Sojabohnen oder Maisstärke aus gv-Mais. Dieser prozessorientierte Ansatz sei das entscheidende Kriterium im EU-Gentechnikrecht und deshalb müssten auch die direkten Nachkommen von Crispr-Hühnern als GVO eingestuft werden. Mit ihrem Vorgehen würde die EU-Kommission „von der bisherigen prozessbasierten Risikoprüfung und Bewertung unter der Hand zu einem produktbasierten Regime wechseln“, ergänzte AbL-Anwältin Katrin Brockmann in der Bauernstimme: „Das wäre ein Präzedenzfall.“ ABL und Testbiotech wiesen ferner darauf hin, dass Eingriffe mit Crispr/Cas zu unerwünschten Änderungen im Erbgut führen können. Diese könnten die Mutterhennen an ihren Nachwuchs vererben. Auch deshalb müsse die Sicherheit der Legehennen und ihrer Eier in einem Zulassungsverfahren überprüft werden.
Für das deutsche Agrarministerium (BMEL), die Aufsichtsbehörde des BVL, bleiben bei der Einordnung von Huhn und Ei ebenfalls noch einige Fragezeichen: Die EU-Kommission habe „die Annahme zugrunde gelegt, dass im Rahmen der Vererbung kein transgenes Erbgut an die Legehennen-Generation weitergegeben wird und dass es sich bei den Legehennen nicht um GVO handelt“, schrieb das BMEL dem Infodienst auf Anfrage. Das EU-Schreiben „beantwortet hingegen nicht die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass kein transgenes Material unbeabsichtigt auf die Legehennen übertragen wurde.“ Es sei noch zu klären, ob diese Legehennen als "aus Gentechnik hergestellt" zu betrachten seien, und damit der europarechtlichen Kennzeichnungs- und Zulassungspflicht unterliegen, so eine BMEL-Sprecherin. Überdies müsse gewährleistet werden, dass ganz oder teilweise von GVO stammende Organismen nicht in die ökologische Produktionskette gelangen könnten.
Der Verband Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) hob hervor, dass in Deutschland bereits 70 Prozent der Eier ohne Gentechnik-Futter produziert werden. „Dieser Erfolg wäre ernsthaft in Gefahr, wenn die EU bei ihrer Bewertung bliebe und die Crispr-Gentechnik-Eier ungeprüft und ungekennzeichnet auf den Markt kämen“, sagte VLOG-Geschäftsführer Alexander Hissting. Die EU-Kommission müsse dringend dem fatalen Eindruck entgegentreten, klammheimlich eine schleichende Deregulierung zu betreiben, und ihre Haltung zu den Gentechnik-Eiern ändern. „Wir erwarten, dass sich der deutsche Agrarminister Cem Özdemir dafür in Brüssel stark macht“, sagte Hissting. [lf/vef]