Die Postkartenaktion richtete sich gegen den Verordnungsvorschlag der EU-Kommission zur Deregulierung von Pflanzen aus Neuer Gentechnik (NGT), der demnächst im Trilog verhandelt wird. Die 60.000 Unterzeichnenden verlangten für NGT-Pflanzen eine konsequente Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit, ein Zulassungsverfahren mit Risikoprüfung, sowie klare Haftungsregelungen und Maßnahmen, um die gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirtschaft zu schützen. Patente auf Saatgut, Pflanzen oder Tiere lehnten sie ab. „Eine unkontrollierte Freisetzung neuer Gentechnik hier in Europa bringt die Bio-Branche in große Bedrängnis. Im aktuellen Gesetzesvorschlag ist weder die Kennzeichnung noch die Rückverfolgbarkeit oder die Frage der Haftung geklärt, sagte Seraphine Wilhelm. Sie ist Geschäftsführerin des Allgäuer Bio-Herstellers Rapunzel, der die Aktion initiiert hatte.
Im Trilogverfahren, das voraussichtlich nach Ostern starten wird, müssen die EU-Mitgliedsstaaten, das Europaparlament und die EU-Kommission die endgültigen Formulierung im NGT-Verordnungsvorschlag festlegen. Dabei sind sich die EU-Kommission und die Mehrheit der Mitgliedsstaaten weitgehend einig. Das Europaparlament hingegen hatte in seiner im Februar 2024 verabschiedeten Stellungnahme in zwei Punkten mit knapper Mehrheit eine andere Position eingenommen. Die Abgeordneten wollen eine durchgehende Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit von NGT entlang der gesamten Lebensmittelkette. Und sie wollen die Verordnung so ergänzen, dass Patente auf NGT-Pflanzen weitgehend ausgeschlossen sind.
Manfred Weber ist Vorsitzender der konservativen Parteienfamilie EVP im Europaparlament. Seine Fraktion stellt mit Jessica Polfjärd die federführende Unterhändlerin des Parlaments im NGT-Trilog. Die Forderung nach einer umfassenden Kennzeichnung kam gegen den Willen Polfjärds und der EVP in die Parlamentsposition. Aufgrund dieser Ablehnung befürchten die NGT-kritischen Fraktionen im Europaparlament, dass die EVP im Trilog die umfassende Kennzeichnung zur Disposition stellen wird, anstatt sie durchzusetzen. „Die konservative Verhandlungsführerin im Parlament muss den Willen der EU-Bürger respektieren und darf hier in den Verhandlungen mit Rat und Kommission keine Abstriche machen“, mahnte deshalb der grüne Europaabgeordnete Martin Häusling. Am morgigen Dienstag wird der beim NGT-Thema federführende Umweltausschuss des Europaparlaments noch einmal die Position des Parlaments bestätigen und damit den Startschuss für den Trilog geben – üblicherweise eine Formalie, aber auch eine Gelegenheit, die Bedeutung der NGT-Kennzeichnung zu unterstreichen.
Die Gelegenheit, sich dazu zu äußern, hätte Manfred Weber am vergangenen Donnerstag gehabt. Doch bei der Übergabe der gesammelten Postkarten in seinem niederbayerischen Wahlkreisbüro in Straubing fehlte der Politiker. „Trotz frühzeitiger Anmeldung des Termins und mehrfacher Kontaktaufnahme gab es keinerlei Stellungnahme oder Gesprächsbereitschaft“, teilte die Aktion "Kein Freiflug für Gentechnik" mit und wertete dies als „bedauerliches Signal“.
Das Schweigen des stellvertretenden CSU-Vorsitzenden Manfred Weber ist erklärbar. Seine Partei ist in der Frage der NGT-Kennzeichnung offensichtlich gespalten. Im Februar 2024 stimmten die CSU-Abgeordneten im Europaparlament gegen eine Kennzeichnung. Vorletzte Woche auf der Agrarministerkonferenz hingegen fehlte Bayern bei den Bundesländern, die eine NGT-Kennzeichnung explizit ablehnten. Auf Nachfrage des Infodienstes erklärte die Pressestelle der bayerischen Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU), die Ministerin begrüße ausdrücklich die Position des Europaparlaments im Hinblick auf den „Ausschluss der Patentierbarkeit“ und die „Kennzeichnungspflicht von Pflanzen und Erzeugnissen aller NGT-Kategorien“. Auch in anderen Punkten sei die Haltung der Ministerin klar: „Mit Blick auf die Agrarstrukturen vor Ort muss auch weiterhin den Mitgliedstaaten und Regionen ermöglicht werden, über den Anbau gentechnisch erzeugter Pflanzen selbst zu entscheiden“. Als weitere klare Haltung führte die Pressestelle auf: „In Bezug auf Verunreinigung mit NGT-Material, auch hinsichtlich des Patentrechts, ist eine Klärung der Haftungsfrage erforderlich“. Und weiter: „Es darf keinesfalls zu einer Ausweitung der Patentierung kommen, die Züchter und auch Landwirte einschränkt“.
Zusätzliche Bedeutung bekommen diese Festlegungen, weil Kaniber inzwischen als mögliche Bundeslandwirtschaftsministerin gehandelt wird. Die CSU hatte schon vor der Wahl dieses Ministerium für sich reklamiert, doch der vorgesehene Kandidat, Bayerns Bauernverbandspräsident Günther Felßner, hat zurückgezogen. Verteilt werden die Ministerposten allerdings erst, wenn der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD ausgehandelt ist. Dann wird sich zeigen, ob sich die Position der bayerischen Landwirtschaftsministerin zum Thema NGT in diesem Vertrag wiederfindet oder sich die CDU durchgesetzt hat, die eine NGT-Kennzeichnung ablehnt. Für Tina Andres, Vorstandsvorsitzende des Bio-Spitzenverbands BÖLW, ist angesichts der unterschiedlichen Positionen klar: „Die Union und ihre Abgeordneten im Europaparlament müssen jetzt dringend klären, ob sie den Bürgerinnen und Bürgern gegen deren erklärten Willen Gentechnik-Produkte unterjubeln wollen.“ [lf]